Der Mensch als sein größter Feind
Der Mensch ist ein Rudeltier. Er braucht ständig jemanden an seiner Seite. Er braucht das Gefühl sich auf jemand anderen stützen zu können. Er braucht die Sicherheit einer Gemeinschaft, um sich wohlzufühlen. Alleine kann er nicht überleben.
Die individuelle Geschichte eines jeden von uns wird somit maßgeblich von den Geschichten anderer geprägt. Wir alle leben in einem kleinen Universum, das nur uns alleine gehört. Das kann man sich, wie eine Blase, vorstellen, die uns umgibt und nach außen hin für niemanden sichtbar ist. Sie ist unser Zuhause, in das keiner unerlaubt eindringen kann. Während unserer Zeit hier auf der Erde begegnen wir jedoch ständig anderen Menschen, die Teil unserer Geschichte sein möchten und mehr als nur die Oberfläche unserer kleinen Welt sehen wollen. Bei jeder dieser Begegnungen berühren wir das Universum unseres Gegenübers. So hinterlässt jede Person, die uns auch nur ein kleines Stück unseres Weges begleitet hat, ein Merkmal. Wir nehmen Macken mit, die für immer an uns haften bleiben. Manchmal kleinere, manchmal größere. Und manchmal überschneiden sich die Universen zweier Menschen, um mehr voneinander zu sehen als nur die reine Außenhülle einer Person. Dadurch entstehen Schnittstellen in unserer Blase. Und jede Schnittstelle erzählt eine andere Geschichte: Kindheitserinnerungen mit der besten Freundin oder der erste Liebeskummer, der erste Schultag in einer neuen Schule oder der Tod eines geliebten Menschen. Keine dieser Schnittstellen ist ersetzbar. Jede von ihnen hat ihren Sinn und keine ist wichtiger als die andere. Ohne sie wären wir nicht so, wie wir sind, ohne sie könnten wir nicht zu dem Menschen werden, zu dem wir werden wollen. Und so wird unsere Geschichte geprägt, von anderen Menschen und ihren einzigartigen Geschichten.
In der heutigen Welt werden jeder Schritt, jede Entscheidung und jeder Fehler von anderen kontrolliert und kritisiert. Das engt uns ein und nimmt uns den Mut Neues zu wagen und unsere Träume zu verwirklichen. Es gibt keine Möglichkeit sich vor dieser Überwachung zu verstecken. Sie ist wie ein Schatten, der uns verfolgt. Wenn aber die Wolken das Licht der Sonne verdecken, wissen wir nicht, wohin er nun verschwunden ist. Denn das Gefühl der Überwachung ist immer da, auch wenn sie nicht anwesend ist. Aus Angst vor den Augen anderer etwas falsch zu machen, leben wir dann lieber im selben eintönigen Trott weiter wie bisher. Von dieser Angst geleitet, ziehen wir uns zurück, leben eingesperrt in unserer kleinen Blase und denken ständig an das, „Was wäre, wenn…“
Diese Überwachung wurde vom Menschen selbst kreiert. Unbewusst. Nicht als Mittel der Regierung zur Kontrolle der Bürger. Nicht als Mittel, um die Bevölkerung an eine Norm anzupassen. Die Gesellschaft ist etwas ganz Natürliches und auf keinen Fall etwas Schlechtes. Trotzdem hat sie eine unerklärliche Macht. Sie ist dazu in der Lage uns zu kontrollieren, ohne dass wir es überhaupt merken. Diese Macht kann ihr einzig und allein von den Menschen gegeben werden.
Bei jeder Entscheidung, die wir treffen, denken wir gleich an ihre möglichen Folgen. Selten denken wir dabei aber nur an die Auswirkungen, die sie effektiv auf unser eigenes Leben haben könnte. Wir fokussieren uns ganz speziell darauf, was für Auswirkungen eine Entscheidung auf die Meinung anderer haben könnte. Wir fokussieren uns darauf, ob diese Entscheidung unserer Rolle in der Gesellschaft schaden könnte. Dabei wird unsere eigentliche anfängliche Absicht von den Normen der Gesellschaft in den Hintergrund gedrängt.
Es wurde uns doch ständig davon erzählt, dass die Meinung anderer keinen Einfluss auf unser eigenes Selbstbild haben sollte. Dass wir Entscheidungen nur für uns selbst treffen sollten, ohne Rücksicht auf die Ansichten anderer. Und dass es egal sein kann, was die anderen sagen, denn unsere Entscheidungen gehen schließlich niemanden etwas an. Das wird uns bis heute erzählt. Die Realität sieht aber anders aus. Jeder mischt sich überall ein. Eine Entscheidung wird nur zur Hälfte für sich selbst getroffen, bei der anderen Hälfte geht es darum, was die Gesellschaft, denn dazu sagen könnte. Oberste Priorität ist es nämlich in ihre Normen zu passen. Die leitende Kraft dabei ist die Angst. Die Angst vor den Meinungen anderer, aber auch die Angst vor uns selbst. Sie ist das Futter der Gesellschaft. Je mehr sie sich mit unserer Angst vollfrisst, desto mehr Macht kann sie erlangen. Und je mehr Macht sie erhält, desto mehr wächst die Angst in uns. Ein Teufelskreis.
Warum aber stellen wir die Ansichten anderer überhaupt höher als unsere eigenen? Warum sollte die Meinung anderer wichtiger sein als die eigene? Man selbst kennt sich doch eigentlich am besten. Aber, wie schon vorher erwähnt, braucht der Mensch ein Rudel, um überleben zu können: die Gesellschaft. Aus Angst aus diesem Rudel gestoßen zu werden und alleine dazustehen, versucht er zu imponieren. Jene Träume, die als unüblich gelten drängt er in den Hintergrund. Jene Gedanken, die er sich nicht laut auszusprechen traut, schluckt er hinunter. Jene Entscheidungen, die sich als Fehler entpuppen könnten, trifft er nicht. Und so wächst die Angst in ihm und gleichzeitig die Macht, die die Gesellschaft auf ihn ausübt. Und das Erstaunliche dabei? Der Mensch nimmt das alles nur unbewusst wahr. So baut er in seinem kleinen Universum ein Reich aus Träumen und Wünschen, die er sich nicht zu erfüllen traut und aus Gedanken, die er sich nicht laut zu sagen traut. Ein Reich voller Fantasie und voller Individualität, die er im Gefängnis der Gesellschaft nicht in vollen Zügen ausleben darf. Nur wenigen seiner Mitmenschen wird er es erlauben mehr als die Oberfläche seines Universums zu sehen. Noch weniger von ihnen werden dazu in der Lage sein, diesen Ort, und somit seine Geschichte, zu begreifen.
Und so verbringt der Mensch sein Leben damit, dieses Reich zu kreieren in der Hoffnung eines Tages einer dieser Menschen zu werden, die dazu in der Lage sind, die Angst vor Ablehnung in ihrem Kopf auszuschalten und ihr Leben einzig und allein für sich selbst zu leben. Und auch ich hoffe eines Tages eine von diesen Menschen sein zu dürfen.
Versklavt im eigenen System
Schon immer gab es in unseren Lebens- und Gesellschaftssystemen Klassen und Ordnungen. Es gab schon immer die Herrscher und die Beherrschten. Jener/e der/die über den anderen stand und solche die untergeordnet wurden, jene, die Subjektivität an sich rissen und andere, die zu Objekten gemacht wurden. Dabei können wir in jegliche Zeit der Vergangenheit bis zum heutigen Tag blicken – immerzu werden wir solche hierarchischen Systeme finden. Manchmal augenscheinlich sichtbar, manchmal etwas versteckter. Auch das Ausmaß und der Umfang eines solchen Systems sind variabel. Dabei können sich bestimmte Systeme auf ganze Länder (Bsp. Absolutismus in Frankreich) und Gruppen (Rangordnung bei Klerikern), oder nur auf die Arbeit (Rangordnung von Arbeitskräften) oder beispielsweise Familien beziehen, je nachdem aus welcher Perspektive man eine Gruppe von Menschen betrachtet.
Auch heute sind diese Systeme nicht verschwunden. Doch zusätzlich sind wir alle, jeder und jede einzelne von uns Teil eines riesigen, weltumspannenden Systems, in welchem wir ständig, bei Tag und auch bei Nacht, unabhängig unseres Alters, kontrolliert und beeinflusst werden. Wir sind alle Sklaven dieses Systems, welches uns durchdringt und formt, wie Wasser Gestein, nämlich unser eigenes Gesellschaftssystem.
Auch Max Stirner (1806 – 1856), ein Philosoph des 19. Jahrhunderts spricht hiervon: „Die Gesellschaft (…) ist eine neue Herrin, ein neuer Spuck, ein neues höchstes Wesen, das uns in Dienst und Pflicht nimmt.“ Sie hat einen weit größeren Einfluss auf jeden von uns, als wir nur zu vermuten meinen, denn gibt es vor ihr auch kein Entkommen. Es liegt nicht an uns zu entscheiden, ob wir Teil oder nicht Teil sein wollen, denn wir müssen. Dies Äußert sich in den verschiedensten Auswirkungen, die die Gesellschaft auf uns hat. Besonders in der heutigen modernen Zeit gibt es einen Sektor, der noch nie so präsent unser Leben beeinflusste und daran Teil hatte und dessen Wichtigkeit zudem zunehmend steigt. Internet, Digitalisierung, Social Media. Diese drei Begriffe beschreiben einen großen Teilbereich unseres Gesellschaftssystems, durch den wir täglich mit tausenden von Informationen auf einmal bombardiert werden. Vor allem Social Media ist dabei Vorreiter. All diese Infos und Reize, die wir über Plattformen, wie Snapchat, Instagram Twitter usw. erhalten, beeinflussen uns, lenken uns in bestimmte Richtungen, verändern unsere Denk- und Verhaltensweisen, Ansichten und Meinungen. Nicht umsonst nennt man bekannte Personen mit hohen Follower-zahlen „Influencer“. Auch wir wollen dazugehören, Teil des ganzen sein und die Gesellschaft mit unserer Zugehörigkeit mitgestalten. Dazu müssen wir aber auch nach den Trends der Gesellschaft funktionieren und ihre Pflichten erfüllen – also bestimmte Dinge besitzen oder tun. Auch gewisse Traditionen entspringen gesellschaftlichen Zwängen. So z.B. Zwangsheiraten oder das Kastensystem in Indien. Wiederum werden Menschen ihrem selbst errichteten System untergeordnet und müssen ihm gehorchen und seinen Ordnungen folgen.
Beim weiteren Beobachten unserer Gesellschaft hat es den Anschien, dass unser Gesellschaftssystem Vorgaben für den Verlauf des Lebens gäbe: Besuch des Kindergartens, dann der Schule, Ausüben eines Sports oder Spielen eines Instruments, wenn möglich ein Studium und danach eine tolle Arbeit und Wohnung/Haus, dazwischen Finden eines Partners und Gründung einer Familie, Aufbau von Wohlstand und Ansehen usw. Diese Vorstellung von einem „perfekten“ Leben, das von unserer Gesellschaft vermittelt wird, ist vergleichbar mit dem Schienennetz eines Zuges, so als würden uns bereits vorgegebene unsichtbare Gleise, die durch Vorstellungen und Abläufe der Gesellschaft erschaffen wurden, zu den Haltestellen des Lebens bringen. All jene aber, die diesem System nicht folgen wollen oder können, die ihre eigenen Wege nehmen, werden dabei auf Hindernisse und Probleme stoßen, z.B. auf Ablehnung in der Gesellschaft und Ausgrenzung. Somit bestimmt der Platz, den wir in der Gesellschaft einnehmen wiederum unser Leben. Folgen wir den Zwängen der Gesellschaft, werden wir mehr und mehr zu Objekten. Dadurch, dass wir alle demselben System folgen, gleiche Wege gehen, gleiches haben und tun wollen, gleichen wir uns von außen betrachtet automatisch und unbewusst einander immer mehr an - wir verlieren also unsere Subjektivität.
Michel Foucault, ein französischer Philosoph im 20. Jahrhundert, schreibt in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ über solche Zusammenhänge zwischen der Gesellschaft und jedem Individuum. Er beschreibt seine Theorie der Überwachungsgesellschaft, in der jedes Individuum von Institutionen und Systemen, aus denen unser Gesellschaftssystem aufgebaut ist, 24/7 beobachtet und kontrolliert wird und somit zum Objekt degradiert wird, ohne dass es sich dessen bewusst ist. Dies lässt sich am Beispiel der Institution Schule erläutern. Bestimmte fixe Regelungen und Gesetze bestimmen den Tagesablauf ganz klar. Um 10:10 Uhr beispielsweise darf die Schulgemeinschaft in die Pause. Ein zweites Klingeln signalisiert exakt eine Viertelstunde später, dass die Pause vorbei ist. Lehrer wie Schüler bewegen sich in der Schule zu bestimmten Zeiten über bestimmte Ein- und Ausgänge. Ohne es zu merken sind Lehrer und Schüler zum Teil des Systems, zu Objekten geworden, die nach bestimmten Mustern funktionieren.
Die von Foucault beschriebenen Institutionen finden wir heute umso mehr in unserer Gesellschaft, denn auch die oben beschriebenen Social Media Plattformen etc. sind Teil solcher Institutionen, denn überall werden Daten und Informationen gesammelt und abgespeichert. Trotzdem gab es sie schon immer. Die Gesellschaft als höchstes Wesen über uns allen ist also nichts Neues, sondern existiert schon seit dem Urgedenken des Menschen, als sie sich zu Gruppen zusammengeschlossen haben. Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass die heutige herrschende Gesellschaft klarerweise eine andere ist, als es jene im 17. Jahrhundert war. Wir Menschen selbst verändern und entwickeln sie mit. In diesem Punkt liegt auch die Absurdität dieses Systems. Denn jedes einzelne Individuum, das Teil des Systems ist, macht die Gesellschaft aus. Die Gesamtheit aller Individuen verkörpert schließlich die Gesellschaft. Wir sind also zugleich die Beherrschten des Systems, haben aber auch Teil am Herrschen, weil wir Teil der Gesellschaft sind, die uns beherrscht. So werden wir von einem System kontrolliert, welches ein jeder von uns selbst verkörpert und mit erschaffen hat und regelmäßig verändert.
Auf Grund der Entwicklungen, die man in unserer Gesellschaft beobachten kann, ist es möglich ,Vermutungen und Schlüsse zu Zukunftsentwicklungen zu ziehen. Unsere derzeitige Gesellschaft wird sich stetig weiter zu einer Leistungsgesellschaft entwickeln, in der Stress und Hektik, Rekordtempi und Schnelligkeit zentrale Begriffe sein werden. Auch die Gesellschaft als Ganzes wird sich stetig verändern, doch wird es Gesellschaftssysteme und deren Institutionen immer geben. Es wird immer das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschte geben und Objekte, die den Pflichten und Diensten des höchsten Wesens entsprechen wollen, die so von der selbst erschaffenen Gesellschaft versklavt werden.
Freiheit in Distanz und Nähe
Die Gesellschaft besteht aus vielen individuell denkenden und seienden Menschen. Trotzdem wird sie als einziges Wesen betrachtet, das sich aus Personen und Personengruppen zusammenfügt. Durch die Gesellschaft lernen wir, wie wir uns verhalten sollen, was wir sagen oder nicht sagen sollen und wie wir unser Leben zu leben haben. Dies passiert meist indirekt und ohne, dass wir uns wirklich darüber bewusst sind. Durch soziale Netzwerke, Familie, Freunde und Bekannte, aber auch durch Fremde werden wir dazu geleitet, uns nach einer bestimmten Art zu verhalten. Aber sollten nicht die Denkweisen und Vorstellungen eines einzelnen Individuums wichtiger sein, als der Wille der Gesellschaft?
Die Gesellschaft entwickelt sich kontinuierlich weiter und stellt immer wieder ein neues Grundgerüst auf, welches sich aus der Veränderung der Menschheit zusammenstellt. Die Denkweise der Gesellschaft ändert sich im Laufe der Jahre durch Erfahrungen und gewonnenen Kenntnissen, weshalb verschiedene Regeln, Gesetze und Vorstellungen der Moral auftreten. „Die Gesellschaft (…) ist eine neue Herrin, ein neuer Spuck, ein neues höchstes Wesen, das uns in Dienst und Pflicht nimmt.“ (Max Stirner, geb. 1806, gest. 1856)
Nach Michel Foucault gleicht unsere Gesellschaft einem Gefängnis, aus dem die Gefangenen nicht sehen können, wann und von wem sie beobachtet werden, aber sie wissen, dass sie von außen jederzeit überwacht werden können. Durch das Gefühl des ständigen Überwachtwerdens, benehmen sich die Menschen, wie es von ihnen erwartet wird und passen sich den Anderen an. In unserer Gesellschaft werden wir in gleicher Weise dazu gezwungen, Dienste und Pflichten zu leisten, ohne diese zu hinterfragen. Durch die Überwachung ändert sich auch unser Gedankengang und passt sich der Gesellschaft an. Sollten diese Denkweisen und Vorstellungen des einzelnen Individuums nicht wichtiger sein, als der Wille der Gesellschaft?
Meinungsfreiheit, selbstständiges Denken und Entscheiden werden heutzutage großgeschrieben. Wie frei können wir aber sein, während wir von außen beeinflusst werden? Sind wir überhaupt in der Lage, uns eine eigene Meinung zu bilden oder werden alle unsere Gedanken durch den Einfluss der Gesellschaft verfälscht? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen zu finden, ist unmöglich. Man kann nicht wissen, was man gedacht hätte, wenn die Umstände anders gewesen wären. Ebenso wenig kann man sich im Klaren darüber sein, wie groß der Einfluss anderer Menschen auf das eigene Individuum wirklich ist.
Nehmen wir einmal an, wir lebten alleine auf dieser Welt und würden deshalb durch Nichts und Niemanden zu einem bestimmten Gedankengang bewegt werden. Unsere Ansichtsweisen und Kenntnisse wären vollkommen divers. Obwohl wir uns eine komplett eigene Meinung bilden könnten, wäre es nicht gewiss, dass wir alle wichtigen und zu beachtenden Umstände und Schwierigkeiten berücksichtigt haben. Durch unsere Mitmenschen lernen wir neue Fakten und Dinge dazu, die unsere Meinung positiv beeinflussen könnten, da wir zuvor nicht an sie gedacht haben, sie aber wichtig für unsere Entscheidungen und unser Denken sind. Wenn wir uns nämlich eine Meinung über etwas bilden, wollen wir immer alle Fakten und Wahrheiten darüber kennen, um uns sicher sein zu können, dass unser Denken unserer Sicht nach richtig ist und in die gewollte Richtung geht.
Wir sollten uns also darüber bewusst sein, dass wir von den Gedanken der Gesellschaft profitieren können, indem wir unser Wissen erweitern und dadurch die Möglichkeit haben, ein fortgeschrittenes Nachdenken zu genießen. Obwohl die Gesellschaft eine enorme Rolle spielt, ist es notwendig, sich ein wenig abzugrenzen, um erkennen zu können, was man selbst denkt und seine eigenen Vorstellungen der Moral zu finden. Trotz der Verschiedenheit der Menschen, ähnelt sich ihre Sichtweise und ihr Denken und baut sich meist auf den gleichen Grundkenntnissen auf.
Die Freiheit des Einzelnen hängt von der Distanz, als auch von der Nähe zur Gesellschaft ab.
Verbrechen für die Freiheit?
Einem kleinen Kind wird gelehrt, „bitte“ und „danke“ zu sagen, denn so lauten nämlich die Zauberwörter. „Bitte“-„danke“- Forderung und Wertschätzung – Geben und Nehmen. Geben und Nehmen bildet den Grundstein unserer Gesellschaft. Einzig in der Gemeinschaft erlangen wir Freiheit und Identität. Nicht zuletzt ist und bleibt Gemeinschaft jedoch ein System. Eine Rangordnung, in welcher der Mensch instinktiv dazu getrieben ist, Macht über seine Mitmenschen zu ergreifen: „Machtergreifung im Schafspelz der Freiheit.“ Für dieses abstraktes Verständnis von Gesellschaft findet Christoph Möllers (geb. 1969) klare Worte: „Kollektive Freiheit meint, dass wir uns ermächtigen, Dinge zu tun, die wir allein nicht tun könnten.“
Freiheit ist das oberste Gut unserer Gesellschaft. Jeder Mensch ist von Natur aus frei. Ein schöner Grundgedanke, doch was bedeutet „frei“. Frei von was? Frei von Pflichten? Frei in seinem Willen? All diese Fragen münden in der Freiheit der Allgemeinheit. Denn, um die Freiheit aller Individuen zu gewährleisten, muss sich der Einzelne der Gesellschaft unterordnen und kann seinen freien Willen nur solange ausüben, solange er damit nicht ein jene seines Nächsten gefährdet. Im Extremen bedeutet dies, dass Frau Müller ihrer Leidenschaft, z.B. das Bogenschießen, frei nachgehen darf. Jedoch muss sie sich offensichtlich, nach den, von der Gesellschaft vorgegeben Normen, richten: Schutzabstand einhalten, entsprechende Schutzausrüstung tragen, auf keine Lebewesen zielen… Indem die Gesellschaft, verkörpert von Staat und Gesetz, die Freiheit der Allgemeinheit über jene des Einzelnen stellt, wird sie ihrer Funktion gerecht. Dieses Geben und Nehmen besteht aus einem Gleichgewicht von Rechten und Pflichten, die in ihrer Wechselfunktion, wiederum Freiheit hervorbringen.
Freiheit ist das oberste Gut der Gesellschaft und gleichzeitig mit Blut überströmt. Freiheit wurde hart erkämpft und ist bis heute hart umkämpft. Die Europäische Union erlaubt ihren Bürgern viele Freiheiten: Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht auf Bildung, Bewegungsfreiheit,… Rechte, welche oftmals als Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden. Dieser soziale Fortschritt ist geprägt von den Idealen der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Der kulturelle Kliff zwischen westlicher und östlicher Welt besteht nicht ohne Grund. Ohne das zeiteinschneidende Ereignis der französischen Revolution, wäre unser Freiheitsverständnis tatsächlich nicht so evolviert. Momentan gehen tausende von Frauen und Männer im Iran, für ein Leben in Freiheit, auf die Straße. Provoziert wurden diese Demonstrationen, nachdem Mahsa Amini, eine kurdische Iranerin, von der Sittenpolizei, wegen Verletzung der Verhüllungspflicht verhaftet wurde und starb. Freiheit stellt nichts weniger als einen Prozess dar.
Diesem Aspekt im Zusammenhang mit der Menschheitsgeschichte widmet sich besonders Hegel, ein Begründer des deutschen Idealismus, in seinem Werk „Phaenomenologiae“. Laut seiner Auffassung ist „absolute Freiheit“ das oberste Ziel der Geschichte, des sogenannten Weltgeistes. Dieser Weltgeist weist in allen Formen der Natur Präsenz auf und bedient sich unterschiedlicher führender Persönlichkeiten, ob Obama oder Trump, von Napoleon und Hitler bis hin zu Bin Laden. Wie kann das sein? Wenn Verrücktheit in einem Sein vereint sein könnte... Dabei, verfolgt der Weltgeist ein größeres, höheres Ziel für die Menschheit. In seinen Augen findet alles Sinn, all das Leiden, die Krankheit, der Terror. Nichts geschieht ohne Grund, alles Geschehen der Geschichte ist vernünftig, da es einzig Mittel zum Zweck darstellt.
Gerechtfertigt dies alles von Menschenhand verübte Handeln. Krieg, Gewalt und schlichtweg pure Ignoranz? Der Weltgeist ein Freibrief für den entarteten Willen? Im Gegensatz, denn das oberste Ziel des Weltgeistes ist die absolute Freiheit. Die Tatsache, dass wir Menschen seine Marionetten sind, verweigert uns nicht die Fähigkeit, uns unserer Vernunft und unseres Verstandes zu verhelfen, selbst zu denken und uns unserer Handlungen bewusst zu sein. Dadurch wiederum schaffen wir Freiheit, denn der Weltgeist ist vernünftig und leitet uns in im Vernunftsdenken. Die größte Herausforderung liegt in uns selbst, der Mensch ist im Widerspruch mit sich und muss sich erst bewusst werden, den Schlüssel zur Vernunft in der Hand zu halten.
Aus Faulheit bevorzugt er in seiner Unmündigkeit zu schwelgen und dies ist der Wendepunkt, an welchem die Gesellschaft nicht mehr die Freiheit des Einzelnen schützt, sondern gefährdet. Es gibt nichts Schöneres als eine erfüllte Kindheit. Kinder besitzen die erstaunliche Fähigkeit in den Tag hineinzuleben, ohne Sorgen, ohne Kummer, ohne einen Gedanken an ein Morgen, sie verlassen sich vollkommen auf ihre Eltern – sie vertrauen ihnen blind – sie gehorchen ihnen blind. Vertrauen und Gehorsam finden wir in der Familie, unter Freunden, in unserer Gesellschaft – in allen zwischenmenschlichen Beziehungen. Ihr teurer Rat kann uns im Alltagleben aus einer schwierigen Situation verhelfen, im OP-Raum sogar Leben retten. Doch ist einen Rat anzunehmen oder einen Befehl auszuüben nicht mit „Licht aus, Vernunft wird in Ruhemodus versetzt“ gleichzusetzen. Soldaten befolgen Befehle, werden gezielt darauf trainiert Befehle ohne mit der Wimper zu zucken – ohne Widerspruch – ohne wenn und aber, auszuführen. Soldaten der Aircraft, aus dem 2. WK, die die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarfen, die die Last von Hunderten von Menschenleben auf ihrem Gewissen tragen, negieren noch heute ihre Verantwortung. Sie hätten einzig Befehle ausgeführt. Historisch betrachtet beschleunigte dieses Ereignis das Ende des 2.WK und verhinderte womöglich den Tod weiterer Menschen. Doch rechtfertigt dies den Tod dieser Menschen? Ist dies Gerechtigkeit? Darf die Freiheit der Allgemeinheit Menschenleben kosten?
Ich bin der Überzeugung, dass, auch wenn die Freiheit der Allgemeinheit über die Freiheit des Einzelnen überwiegt, diese Macht der Allgemeinheit, den Funktionären der Freiheit nicht das Recht des Menschen auf Leben verletzen darf. Denn die kleinere Freiheit kann von ihrem größeren Bruder eingeschränkt werden, jedoch nicht zerstört. Wird die Freiheit des Einzelnen aufgelöst, bricht auch die Freiheit der Allgemeinheit, welche schließlich auf den einzelnen Rechten und Pflichten der Individuen beruht, in sich zusammen. Wenn wir von dieser Macht der Allgemeinheit sprechen ist es, meines Ermessens nach, wesentlich, dass die Definition von Freiheit nicht in den Hintergrund rückt. Ein Beispiel dazu: Ich bin von Natur aus frei. In einer Gemeinschaft, in meinem Freundeskreis erfahre ich zudem die Freiheit der Allgemeinheit, gleichzeitig wird mir Macht zugesprochen. Denn in der Gemeinschaft erlange ich die Freiheit Erfahrungen zu sammeln, welche mir die Freiheit des einzelnen verwehrt. Ich erfahre Glück, Liebe, Nähe und erlange Zugang zu geistigen Gütern, wie der Musik. Sollte ich meine neue Position, jedoch ausnutzen, mich über meine Mitbürger lustig machen, deren Freiheit verletzen, so wird mein Handeln nicht mehr durch meine Freiheiten legitimiert. Aus der gegenübergestellten Perspektive erfordert gerade diese Situation, dass meine Freiheit, von einem anderen mir übergestellten Organ eingeschränkt wird, z.B. mir von meiner Lehrkraft eine Strafe zugewiesen wird, wodurch jene das Opfer meiner willkürlichen verletztenden Aussagen schützt. Meiner Ansicht nach, kann Freiheit nur in Einklang mit vernunftbasierten Denken bestehen. Wenn mein Handeln nicht mit meinen moralischen Überzeugungen übereinstimmt, so kann es sich nicht um Freiheitförderndes Tun handeln.
Ein Kollektiv der Freiheit
Hört man sich die Meinungen von Menschen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten an, was denn das wichtigste Gut in einem freien demokratischen Staat sei, so werden die Antworten zwar unterschiedlich klingen, doch im Kern dasselbe meinen. Aussagen wie „Ein Recht auf Mitbestimmung im Staatsgeschehen“ oder „Das zu sagen, was man will, das man können“ verdeutlichen, dass es dem modernen Menschen insgesamt um eines geht: die Freiheit. Ein simpler Begriff, diese Freiheit und doch ist seine Definition umso schwieriger. Denn was Freiheit für einen Italiener bedeutet, könnte genau so gut Science- Fiction für einen Afghanen sein. Und doch wird der Afghane nicht dieselbe Art von Freiheit des Italieners anstreben, selbst wenn er die Chance dazu hätte. Freiheit beschreibt also eine Idee, einen Gedanken, der starke persönliche und gesellschaftliche sowie historische Einflüsse haben kann. Freiheit verkörpert ein persönliches Wohlbefinden sowie die Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg. Eine allgemeine Definition von Freiheit existiert also nicht und muss von einem jeden selbst kommen. Eigene Freiheit ist das Ziel aller und doch der Gegensatz zur Freiheit anderer. Was sich nun alle Herrschaftssysteme in allen Ländern der Welt zunutze machen.
Denn wenn eine Definition der Freiheit beim Menschen liegt, das für ebendiesen als höchster Wert gilt, so kann man die Ausmaße und Grenzen dieser Freiheit beeinflussen und verändern, denn der Mensch ist bekanntlich ein geistig eher schwaches Wesen, dessen Bedürfnisse und Ansichten sich über Nacht ändern können. Der Geist der Freiheit, die Definition dieser, muss veränderlich sein, denn beispielsweise ändern sich Meinungen über politische Führer in einer Demokratie ständig, auch wenn diese ihr Wahlprogramm bzw. ihre leeren Versprechungen nicht ändern. In einer Autokratie hingegen bleibt die öffentliche Meinung beständig und Scheindemokratien werden von Bürgern des eigenen Staates kaum angezweifelt und es wird kaum dagegen protestiert. Autoritäre Systeme bleiben mit derselben Führung über Jahrzehnte hinweg bestehen. Auch hört man kaum etwas von Aufständen oder Revolutionen in Ländern wie Russland oder Ungarn. Ist denn hier eine Freiheit erreicht, ein perfektes Staatssystem, in dem alle Menschen auf ewig zufrieden sind mit der Regierung? Würde man einen der Grundpfeiler einer modernen Autokratie hier weglassen, so würde dies vermutlich stimmen. Der Grundpfeiler einer modernen Autokratie ist eine vollständige Kontrolle einer Partei bzw. Person über Senat, Parlament sowie die staatlichen Medien. Und ebendiese Medien sind die allerwichtigste Waffe in einer solchen Regierung.
Eine Waffe mit Schwachstellen, denn das, was eine Autokratie in den meisten Ländern nicht möglich macht, ist die Bildung von Gruppen, in denen ein gemeinsamer Gedanke der Freiheit größtenteils vorherrscht (vollständige Einigkeit einer Meinung vieler Personen ist meiner Meinung nach nicht möglich). Es entsteht ein Kollektiv der Freiheit, in dem die Menschen ihre Stimme verstärken und ungehinderter sprechen können. „Kollektive Freiheit meint, dass wir uns ermächtigen, Dinge zu tun, die wir allein nicht tun könnten. Dieses Zitat von Christoph Möllers drückt genau das aus. Was den Menschen stark macht, ist nicht dieser selbst, sondern ein Zusammenschluss vieler Gleichdenkender. Außerdem ist bereits Freiheit gegeben, wenn die Bildung einer solchen Gruppierung möglich ist. Je größer der Zusammenschluss, umso besser kann eine Gruppe ihre Ziele umsetzten und desto weniger ist sie beeinflussbar. Denn nicht nur der sich unfrei fühlende Mensch bildet Kollektive, sondern auch der sich frei fühlende.
Kontrolliert man nun aber bspw. die Medien und hält Gruppen mit Gedanken einer anderen Freiheit klein bzw. macht die Bildung dieser unmöglich, so kontrolliert man auf einen längeren Zeitraum gesehen praktisch die öffentliche Meinung und im übertragenen Sinn auch die Definition der Freiheit selbst. Kleinere Gruppen (Minderheiten) haben in ihrem Denken der Freiheit die wenigsten Unterstützer im eigenen System, obwohl Außenstehende ihre Standpunkte wieder als die „richtigen“ sehen. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel her: Im Ungarn des Viktor Orbán hat er genau das geschafft; das Gesicht der Wahrheit so zu verzerren, dass es für die Mehrheit der Bürger als Freiheit ins Auge fällt. So hatte er sich ein über Jahre haltendes System geschaffen, mit Verfassungsänderungen, die es selbst einer starken Opposition unmöglich machen, das Wahlergebnis zu ändern. Bei den Wiederwahlen im März dieses Jahres dann, als die Anschuldigungen der Korruption bereits schwerwiegend wurden, gewann die Wahl Katalin Novak, eine Frau seiner Partei und Außenstehenden war klar, wer im Hintergrund die Fäden zog. In seiner Regierung kann Orbán ungehindert Minderheiten wie Homosexuelle oder Ausländer praktisch öffentlich bekämpfen. Diese haben ihn aber bis vor kurzem noch unterstützt, da sie seine Partei als eine linksliberale kannten, wie sie es noch in den 90er-Jahren war. Ein fast schon amüsanter Gedanke, dass ein Mensch, dessen natürliche Gabe die Fluidität seiner Ansichten ist, nicht von einer selben Eigenschaft eines anderen ausgeht. Die Naivität des Menschen wird insbesondere klar, wenn man sich Interviews aus Ungarn ansieht. Das Bild der Freiheit eines jeden ist dermaßen verzerrt, dass sich die allermeisten Ungaren als frei fühlen und denken, sie hätten mit der Wahl von Novak etwas bewirkt. Wäre den ungarischen Bürgern aber die Möglichkeit der freien und unabhängigen Informationsbeschaffung nicht genommen worden und wäre das Wahlergebnis dasselbe gewesen, könnte man dann von Freiheit sprechen? Nein, denn wenn das meinungsbildende Wesen eines Menschen dermaßen unterdrückt und verändert wird, so sind es nicht mehr die eigenen Gedanken und Konzepte der Freiheit eines jeden im Kopf des anderen, sondern die des Unterdrückers (hier Orbán). Wie stark der Mensch sich beeinflussen lässt, das hat er zwar selbst zu entscheiden, aber ab einem gewissen Punkt der Manipulation ist dieses Denken nicht mehr möglich, da der Verstand denkt, er tue dies bereits. Die Macht des Menschen kommt von ebendieser Fähigkeit der Meinungsbildung, die ihm nun genommen wird.
Was den Menschen in seiner Natur so wunderbar macht, ist die Unstimmigkeit, die sich durch die Existenz des Verstandes gebildet hat. Eines haben aber alle Menschen gemeinsam und es verbindet sie, ob nun gewollt oder nicht: Das Streben nach etwas Größerem. Dieses Größere muss für den Menschen zwar utopisch oder surreal klingen, aber doch erreichbar wirken. Die Freiheit passt hier perfekt. Und so glaube ich, dass der Mensch, egal welche Ansichten er vertritt, insgeheim als Ziel die Freiheit anstrebt, sei es die eigene oder die seines Volkes. Absolute Freiheit als allgemeiner Kerngedanke ist in keinem Staatssystem unserer Zeit möglich. Jenes Staatssystem, das ihr am nächsten kommt, ist die Demokratie, die nur korrekt existieren kann, wenn es verschiedene Kollektive der Freiheit gibt, die sich ständig gegenseitig entgegenstellen, aber nicht bekämpfen. Auch wenn so kein Ziel in Sicht dieser Diskussionen und Entgegenstellungen ist, so ist es doch der Weg des Fortschritts in Richtung der wahren, absoluten Freiheit aller, auf dem wir uns in einer Demokratie befinden.